Vladimír Burda: Die Prager Unterführung (Pražský podchod)  

Das Warten hat für die Prager ein Ende: Am 2. Dezember 1968 wurde von einem Team kooperierender Betriebe (Investor: Investor dopravních a inženýrských staveb; ausführender Betrieb: Vojenské stavby) die Unterführung auf dem Wenzelsplatz der Öffentlichkeit übergeben.

Dieser Durchgangsraum, der den unteren Teil des Wenzelsplatzes mit dem oberen und die Jindřišská- mit der Vodičková-Straße verbindet, ist geprägt von Baumaterialien, wie Stein, Marmor und Granit (Böden). Die Decke der Halle, teils aus Gips-, teils aus Akustikplatten, dämmt Stöße und Lärm von oben. Der unterirdische Raum ist mit zwei Verkaufsständen, einer Herren- und einer Damentoilette, Telefonen, Schaukästen und Werbetafeln ausgestattet. Für den Luftaustausch sorgen lufttechnische Anlagen. Neben normalen Treppen gibt es auch Rolltreppen aus französischer und jugoslawischer Herstellung. Im Zusammenhang mit dem Bau der Unterführung wurden auch die angrenzenden Teile der Jindřišská- und Vodičková-Straße umgebaut, in die die Unterführung mündet. Ein erheblicher Mangel ist jedoch sicherlich die Tatsache, dass die Ausgänge zum Wenzelsplatz nicht überdacht sind.

Der architektonische Gesamteindruck der unterirdischen Kreuzung ist positiv. Zur Übersichtlichkeit, die sie charakterisiert, trägt nicht nur die diagonale Anordnung der Verkaufsstände bei, sondern auch, dass sie zu zwei Dritteln aus Glas bestehen. Im Übrigen dominiert der Eindruck der Entmaterialisierung, der durch das Glas vermittelt wird. Dies alles im Licht der künstlichen Beleuchtung. Es gibt keine dunklen Ecken. Ein transparenter, nach allen Durchgangsrichtungen hin offener Raum, der ästhetisch durch mehrere Kunstwerke abgerundet wird.

Mit den wichtigsten Gestaltungselementen der Unterführung und des Laubengangs am Gebäude des Polnischen Informationsdienstes in der Jindřišská-Straße betraute Architekt Kales vom Projektierungsinstitut „Vojenský projektový ústav“ die Künstler Josef Buňka, Ladislav Dydek in Zusammenarbeit mit František Bílek sowie Karel Velický und Zdeněk Sýkora. /Redaktionelle Anmerkung: Heute ist dieser Ort bebaut. Das Mosaik Zdeněk Sýkoras wurde Teil eines dort neu entstandenen Cafés./

Die vier strukturalen Ecktafeln aus Aluminium von Josef Buňka stellen vier Varianten einer einfachen geometrischen Form dar. Die Idee der Variabilität der Reliefs mit ihren Schriftelementen, die auf das Moment der Information anspielen, entspricht dem permanenten Wandel an der frequentiertesten Kreuzung der Hauptstadt, die überdies durch die allgegenwärtigen Leuchtreklamen und Verkehrspiktogramme geprägt ist.

Zwei rechteckige Flächen an den Rückwänden der Verkaufsstände gestalteten Ladislav Dydek und František Bílek als großflächige farbige Stucco-lustro-Kompositionen. Offenbar von dem Bemühen geleitet, den unterirdischen öffentlichen Platz zu lyrisieren, schufen sie abstrakte Werke, die sich sicherlich besser für ein ruhigeres und intimeres Umfeld eignen würden.

Die vertikal gegliederte keramische Wand von Karel Velický, die sich am Ausgang in Richtung Wenzelsplatz befindet, fühlt sich weit besser in den Rhythmus dieser Großstadtlokalität ein, an der das Leben pulsiert.

Was die Wirkung, die Entstehung und die Werkästhetik betrifft, ist die Wandgestaltung im Laubengang am Gebäude des Polnischen Informationsdienstes am interessantesten, die Doz. Zdeněk Sýkora in Zusammenarbeit mit dem Mathematiker und Programmator Doz. Dr. Jaroslav Blažek geschaffen hat. Dieses schwarz-weiße Mosaik (355 x 480 cm), das aus glasierten Rakovníker Keramikkacheln mit einer Größe von 15 x 15 Zentimetern besteht, in die aufgrund des Entwurfs und anhand von Schablonen in der Keramikwerkstatt „Tvar“ auf der Prager Moldauinsel Kampa nachträglich ein Dekor eingebrannt wurde, trägt den Namen „Schwarz-weiße Struktur“ und gehört in den Bereich der kombinatorischen bzw. permutationellen Kunst, die Prof. A. Moles /Redaktionelle Anmerkung: Abraham André Moles (1920–1992), französischer Ästhetiker, Musik- und Kommunikationswissenschaftler/ als „im Grunde strukturalistisch“ definierte, „weil sie die Atome des Alls isoliert und zu beliebigen Strukturen wieder neu zusammenfügt... Permutationelle Kunst hat zum Ziel, alle ungenutzten Möglichkeiten des Werks auszuschöpfen. Dadurch entwickelt sie im Künstler ein Bewusstsein für die Möglichkeiten“, sagt Prof. Moles weiter und fügt abschließend hinzu: „Von da an ist Kunst vor allem eine Idee, die abstrakt in ein Konvolut von Regeln transponiert wird, und es gibt eine Vielzahl von Realisationen, die alle diesen Regeln genügen, welche sich alle in ihrer Materialität unterscheiden und alle am selben Gedankensystem teilhaben.“ /Redaktionelle Anmerkung: Vladimír Burda zitiert hier aus dem Text Erstes Manifest der permutationellen Kunst von Abraham Moles, der im Herbst 1962 im 8. Heft der „Edition rot“ von Max Bense und Elisabeth Walther erstmals erschienen war. Bald darauf wurde der Text auch im tschechischen Umfeld bekannt, wie einige Notizen im Buch Let let. Im Flug der Jahre (Droschl, Wien 1994) von Josef Hiršal und Bohumila Grögerová von 1963 zeigen. Die erste tschechische Übersetzung von den genannten Autoren erschien 1965 in der 8. Nummer der Zeitschrift Tvář und fand auch Eingang in das Buch Slovo, písmo, akce, hlas, K estetice kultury technického věku, Výběr z esejů, manifestů a uměleckých programů druhé poloviny 20. století (Wort, Schrift, Aktion, Stimme. Zur ästhetischen Kultur des technischen Zeitalters. Eine Auswahl aus den Essays, Manifesten und künstlerischen Programmen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts), Československý spisovatel, Praha 1967. Diese Auswahl stellten Josef Hiršal und Bohumila Grögerová zusammen, die auch das Vorwort verfassten. Einer der Übersetzer des Buches war auch Vladimír Burda./

Ich habe den Urheber der Schwarz-weißen Struktur, Doz. Zdeněk Sýkora, aufgesucht, um mit ihm ein kurzes Interview zu führen, und zu Beginn bat ich ihn um eine Erklärung, wie er überhaupt dazu kam, den Laubengang auszugestalten, und wie die Konzeption für dieses Werk entstanden ist.

Ich hatte keine spezifischen Pläne für diese Wand. Mir war klar, um was für einen Raum es sich handelt, ich kannte die Materialien, die in der Umgebung verwendet werden sollen, und es war notwendig, sich für ein Material zu entscheiden, das sich unter solchen Bedingungen bewährt. Diese Überlegung war natürlich durch einen bestimmten ökonomischen Rahmen limitiert. Der Projektant kannte meine Arbeiten von Ausstellungen her und wollte die Tragfähigkeit dieses Ansatzes in der architektonischen Praxis erproben (praktisch testeten wir dabei ein geeignetes System für die Verkleidung der Lüftungstürme des Letná-Tunnels, für die ich ein weit monumentaleres Glasmosaik entworfen hatte). Er kannte mich nicht persönlich und bat mich, das zu machen.

Sie haben zugestimmt und bewiesen, dass man Ihre Strukturen ideal in die Architektur einbinden kann. Hatten Sie dabei spezifische formale Probleme zu lösen?

Im Sinne der Suche nach der Form war für mich diese Frage kein Problem, denn in meiner gesamten künstlerischen Praxis beschäftige ich mich in den letzten Jahren mit den formalen Beziehungen in der Fläche. Das geschieht mithilfe mehrerer geometrischer Elemente und durch das Programmieren ihrer Verteilung in der Fläche und ihrer Lage zueinander. Dieser letzte Aspekt (ihre Lage zueinander), die Größe des Elements und seine Farbgebung waren die einzigen Fragen, mit denen ich mich in formaler Hinsicht befasste. Dass es eine Struktur wird, wusste ich. Die Wahl von Schwarz und Weiß begründe ich damit, dass sie mir zum Ersten meinem Ansatz am besten zu entsprechen scheinen und zum Zweiten, dass die Materialien, die in der Umgebung für den Bau verwendet werden (das heißt Metall, Glas, Marmor) für diese Farben bzw. Nichtfarben sprachen.

Es liegt im Wesen kombinatorischer Kunst, dass es mehrere Lösungsmöglichkeiten gibt. Aus wie vielen Programmtypen haben Sie und Architekt Kales Ihre Auswahl getroffen?

Im Grunde gab es zwei Möglichkeiten, die darin bestehen, dass sich die Elemente entweder farblich aneinander anschließen oder sich voneinander separieren (ein Element, das auf einer Seite schwarz ist, schließt sich mit dieser Seite an die weiße Seite des Nachbarelements an). Das ist die Regel, die wir verwendeten, denn im umgekehrten Fall (wenn sich die Farben aneinander anschließen) bestand die Gefahr, dass die großen zusammenhängenden schwarzen oder weißen Flächen, die bei diesem Programmtyp entstehen, zu einer optischen Deformation der Wand führen. /Redaktionelle Anmerkung: Als Illustration dieser Lösung wurde 1968 offenbar aus Reproduktionsgründen anstelle des tatsächlichen Entwurfs der Variante B das Bild Schwarz-weiße Struktur, 1966, Öl/Leinwand, 220 x 140 cm ausgewählt, das sich heute im Besitz des Museums Kampa befindet./

Mit welcher Strömung der zeitgenössischen Kunst identifiziert sich diese Struktur? Könnten Sie Ihren Ansatz präzisieren?

„Bei meiner Arbeit handelt es sich keinesfalls um Op-Art, weil es weder um kinetische noch um räumliche Illusionen vom Typ Vasarely oder Riley geht, was beides die Fläche verleugnet. Es handelt sich um eine Struktur aufgrund kombinatorischer Prinzipien, aus denen ein Moment der Instabilität resultiert, das jedoch völlig anders geartet ist. Bei Op-Art geht es vor allem um einen kinetischen oder räumlichen Schock beim Betrachten des Kunstwerks als Ganzes, hier jedoch kann man nur von einem Gefühl der Unruhe, der Instabilität sprechen, das erst beim Betrachten (Lesen) dieser Struktur entsteht.“

Könnten Sie den Entstehungsprozess und die Umsetzung dieses Werks in allen Stadien beschreiben? Ich meine vor allem, wo er sich von traditionellen Vorgehensweisen unterscheidet.

Werken dieser Art gehen Skizzen im üblichen Sinne voraus, aber Skizzen mehrerer möglicher Lösungsvarianten, die alle in derselben Art und Weise verarbeitet werden müssen – von der Wahl der Elemente über das Aufstellen des Programms, die Berechnung und ihre Übertragung in geometrische Formen, die dann bereits die Grundlage für das Werk bilden.

Werke, bei denen in einer bestimmten Phase der Computer auf den Plan tritt. Wie würden Sie seine Rolle im gesamten Schaffensprozess beurteilen?

Um die Art der Arbeit mit dem Computer zu charakterisieren, kommt man hier nicht mit einer kurzen Formulierung (Definition) aus, man muss die Methode genauer beschreiben. Es handelt sich nicht um Computergrafik, bei der es in der Regel um grafische Transformationen (Veranschaulichungen) mathematischer Gleichungen geht, die direkt vom Computer ausgeführt werden, sondern der Computer erfüllt Aufgaben im Arbeitsprozess, wie es in der wissenschaftlichen und technischen Praxis üblich ist. In unserem Falle beeinflussten im Unterschied zu den erwähnten Methoden die Möglichkeiten des Computers die Form unserer Ausgangselemente, die diesen Möglichkeiten angepasst wurden (man kann nicht jedes beliebige Element programmieren).

In welchem Maße kommunizieren diese mit wissenschaftlichen Methoden generierten Strukturen, die vornehmlich rationalistisch sind? Sind sie nicht auf einen allzu engen Kreis beschränkt?

In der Regel wird dieser Art Kunst mit dem banalen Vorwurf konfrontiert, sie sei entmenschlicht. Das ist völliger Unsinn (etwa so, als würde man Monets Bildern diesen Vorwurf machen). Ohne dass ich dieses Problem genauer analysieren möchte, sind diese Arbeiten für die unmittelbare Kommunikation mit dem Betrachter auf allen kulturellen Niveaus offen, was die alltägliche Praxis am besten beweist.

Fällt ihnen eine allgemeinere Definition für diese Kunstform ein, die ihre Philosophie, ihre erkenntnistheoretische Grundlage verdeutlicht?

Bei uns überdauert unter dem Begriff Kunst auf fast allen Interpretationsebenen ein romantisches Verständnis, so sehr es sich auch dem neuen künstlerischen Denken anpassen mag. Diese Kunst arbeitet nicht mit dem Inneren des Menschen, sie befasst sich nicht mit dem Schicksal des Menschen und möchte dies auch nicht tun. Ich halte die romantischen Ansätze in fast allen Ausprägungen wegen ihrer Akzentuierung des Subjektiven für unfähig, in eine weiterreichende soziale Kommunikation einzutreten. Das heißt nicht, dass ich sie negiere, ich stecke lediglich ihre Grenzen ab. Im Übrigen ist die Abgrenzung dieser beiden unterschiedlichen Ansätze (Wege, Methoden, Einstellungen) schon durch die Proportionen der Allgemeinheit dieser Beziehungen, die in den Begriffen „subjektiv – objektiv“ enthalten sind, gegeben. In dieser neuen Kunst geht es also eher um die Erweiterung der alltäglichen psychophysischen Praxis, der menschlichen Wahrnehmung. Sie spielt also im heutigen Lebensstil vielmehr eine prophylaktische, reinigende, klärende Rolle, und keine verdunkelnde und verwirrende. Ich begrüßte die Möglichkeit, diese Kunst direkt auf der Straße – dort, wo sie hingehört – präsentieren zu können. Ich opponiere damit offenbar gegen die Nationalgalerie, in die diese Ansätze bislang nicht vorgedrungen sind, wie die letzte Ausstellung von Sammlungen moderner Kunst belegt, die zu demonstrieren scheint, dass die Entwicklung der tschechischen Kunst bestenfalls auf einen introspektiven Lyrismus hinausläuft, was den Blick auf den wahren Zustand der zeitgenössischen tschechoslowakischen Kunst natürlich deformiert.

Zum Abschluss möchte ich anmerken, dass die geringschätzige Haltung einem gewissen Teil des modernen künstlerischen Denkens und der ihm entsprechenden Kunst gegenüber nicht nur den Künstlern, sondern vor allem der Gesellschaft zum Schaden gereicht. Sýkoras Mosaik ist ein Beleg dafür, dass sich rationalistische Kunst überaus organisch in die Großstadtarchitektur einfügt. Zudem denke ich, dass eine größere Einheitlichkeit der künstlerischen Konzeption dem technisch und baulich hochwertigen Interieur der Prager Unterführung nur zum Vorteil gereicht hätte. Bleibt nur zu hoffen, dass künftig neuen künstlerischen Experimenten mehr Raum gewährt wird. Und dies nicht nur in der Architektur.

 

Das Interview wurde erstmals in der Zeitschrift „Výtvarná práce“ veröffentlicht, 28. 12. 1968, Jg. 16, Nr. 22-23, S. 1 und 12. Es ist im Buch Zdeněk Sýkora Rozhovory (Zdeněk Sýkora Interviews) zu finden.

Vladimír Burda (1934–1970), Übersetzer, Publizist, Kritiker und Dichter. Er gehörte zum Kreis der Künstler an Jiří Kolářs Tisch im Café Slavia und war eines der Gründungsmitglieder der Künstlervereinigung „Křižovatka“ (1963).